Weiterführende Informationen: Was ist Achtsamkeit?

Achtsamkeit ist nichts besonderes...

Achtsamkeit ist ein Alltagsphänomen; jeder Mensch ist zu bestimmten Zeitpunkten achtsam. Schwieriger ist jedoch dabei, dies sowohl oft, kontinuierlich als auch in einem hohen Maß beizubehalten: "Mindfulness per se is not unusual; continuity of mindfulness is rare indeed" (Germer, 2005; S. 9). Und: ''Achtsamkeit ist nicht Denken", (Gunaratana, 1996, S.154). Vergleicht man die Definitionen verschiedener Autoren (z.B. Kabat-Zinn, 1990; Germer, 2005; Hayes et al., 2004; Baer, 2006; Heidenreich & Michalak, 2003) so stellt man fest, dass die meisten Definitionen zwei zentrale Bestimmungsgründe aufweisen, von denen Hart (1987) sagt ''Both are essential, just as a bird requires two wings to fly'' (S. 105):

 

  • Awareness
  • Equanimity

Awareness

Awareness meint intentionale, prä-verbale Aufmerksamkeit gerichtet auf Bewusstseinsinhalte des gegenwärtigen Moments. Intentionalität impliziert Bewusstheit; also sich der Erlebnisinhalte, des Tuns bewusst zu sein. Singer (2001) bezeichnet Awareness als "a meta-level at which their own [gemeint sind Gehirne, d. A.] internal states are subject to cognitive operations, (...) they have, what one might call, an 'inner eye' function" (S. 124).

Die in der einschlägigen Literatur stets betonte Fokussierung auf das Hier-und-Jetzt birgt die Gefahr zweier Missverständnisse.

Erstens das Missverständnis anzunehmen, Achtsamkeit beziehe sich nur auf Sinneswahrnehmungen (denn diese sind ja notwendig im Hier-und-Jetzt). Jeglicher Bewusstseinsinhalt kann aber zum Gegenstand der Achtsamkeit werden. Dies können Objekte von Sinnesmodalitäten (visuell, akustisch, olfaktorisch, gustatorisch, taktil oder andere Körper bezogene sinnliche Wahrnehmung wie Schmerz) oder psychische Modalitäten (Kognitionen, Emotionen, motivationale Prozesse und sonstige Geisteszustände) sein. Dazu Germer (2005): "Mindfulness practice may include any sense - (...) as well as mindfulness of thoughts and feelings" (S. 16). Einige Autoren betonen dabei das Primat von Empfindungen im Sinne körperbezogener Wahrnehmungen wie Druck, Temperatur etc.:"The crucial link occurs at the point of sensation" (Hart,1987; S. 186).

Das zweite mögliche Missverständnis ist, dass jegliche Aktivität im Sinne von Planen, Wollen, Tun ausgeschlossen sei. Tatsächlich gibt es bestimmte Arten von ("formeller") Achtsamkeitspraxis, in denen dies so gehandhabt wird – aus dem Grund, da es so viel einfacher ist, die Bewusstheit aufrecht zu erhalten.

In "informellen" Übungen hingegen kann Aktivität vollkommen erlaubt sein; freilich gilt auch hier, sich möglichst lang, mit möglichst wenig Unterbrechungen und möglichst intensiv über aktuelle, momentane Bewusstseinsinhalte im Klaren zu sein (und diese natürlich nicht zu bewerten; bzw. nicht darauf zu reagieren). Der psychische Apparat hat die Tendenz zur Selbstvergessenheit und Abschweifung. Sollte der Übende beim Praktizieren von Achtsamkeit abschweifen, so soll sobald die Abschweifung festgestellt ist, die damit wieder gewonnene Achtsamkeit von neuem beibehalten werden, ohne dies zu verurteilen: ''When you find that the mind has wandered, you accept: 'Look, the mind has wandered' '' (Hart,1987; S. 80).

 

Equanimity

Equanimity (vgl. Hart, 1987); andere Autoren sprechen von 'accepting' (Germer, 2005), 'nonevaluative' (Brown & Ryan, 2003) oder 'non-judgemental' (Kabat-Zinn, 1990).
Akzeptanz meint ein aktives 'Gut-heißen' von Erfahrungen: "Acceptance is an extension of non-judgment. It adds a measure of kindness or friendliness" (Germer, 2005; S. 7).
Nicht-Bewerten hingegen kennzeichnet das Unterfangen, eine Erfahrung als weder positiv noch negativ zu klassifizieren: ''Nicht wertend ist die Haltung, weil die auftretenden Bewusstseinsinhalte nicht kategorisiert (positiv oder negativ, angenehm oder unangenehm) [...] werden sollen'' (Heidenreich & Michalak, 2003; S. 256).

Diesbzgl. wird hier der Standpunkt vertreten, dass weniger die kognitive Evaluation, sondern der affektive Umgang mit Bewertungen der entscheidende Punkt ist. Auf eine Bewertung soll nicht mit Verlangen (craving) im Fall positiver Bewertungen, bzw. nicht mit Ablehnung (aversion) im Falle negativer Bewertungen reagiert werden.
Wichtiger als eine kognitive Beurteilungsabstinenz ist also ein affektives Nicht-Reagieren. Die kognitive Psychologie weißt auch auf die Unterscheidung zwischen Bewertung und Affekt hin: "it is also important to clarify the distinction between evaluation and affect. (...) Evaluations and preferences are simple valenced judgments. Affective reactions involve separate, sometimes uncorrelated, positive and negative dimensions. Affect also implicates an arousal or activation dimension" (Fiske, 1982; S. 57).

 

Achtsame Menschen werden weniger stark von ihren Affekten überwältigt.

Kurz gesagt würde eine in Achtsamkeit geschulte Person bestimmte Dinge genauso wenig gut heißen wie eine Person, die nicht in Achtsamkeit trainiert ist. Der Unterschied bestünde hingegen in der Reaktion auf diese Bewertung: Die achtsame Person würde weniger stark oder weniger lange aversive Affekte erfahren bzw. von diesen überwältigt werden als die wenig achtsame Person.

Darüber hinaus gibt es keinen Beleg, dass es grundsätzlich möglich ist, überhaupt nicht zu bewerten.
So scheint es eher wahrscheinlich, dass Sachverhalte, je nachdem durch welche Schemata sie verarbeitet werden grundsätzlich im Hinblick auf ihre Valenz eingeordnet werden (Clark & Fiske, 1982).Aus diesem Grund gilt es, statt einem aktiven wohlwollenden Akzeptieren von positiven Bewusstseinsobjekten ein Nicht-Reagieren (bzgl. der Affektreaktion) zu kultivieren.


Reagiert man auf negativ eingeschätzte Wahrnehmungen mit Ablehnung ist der Weg offen für Leid: "Ich möchte dies nicht, ich hasse es, ich kann es nicht ertragen". Reagiert man im Fall angenehmer Erlebnisinhalte mit Wohlwollen ist die Gefahr hoch, dass es zu Verlangen und zu Gier (craving) kommt. Dies birgt aber wiederum den Keim zu Leiden, denn Dinge, von deren Vorhandensein das Wohlbefinden abhängt, sind möglicherweise - und existenziell unbedingt - nicht im eigenen Kontrollbereich. In Fall angenehmer Erfahrungen bedeutet also Achtsamkeit ebenfalls mit Wachheit und Gleichmut zu reagieren. Mit steigendem Gleichmut ist aber nicht immer ''mittelmäßige'' Gefühle zu erwarten, sondern zunehmend positive Gefühle. Dazu Hart (1987):

"There are those who imagine that always remaining balanced means that one can no longer enjoy life in all its variety, as if a painter had a palette full of coulors and chose to use nothing but gray, or as if one had a piano and chose to play nothing but middle C. This is a wrong understanding of equanimity. (...) With a balanced mind we can enjoy life more. When a pleasant situation occurs, we can savour it completely, having full and undistracted awareness of the present moment. But when the experience passes, we do not become distressed. We continue to smile, understanding that it was bound to change" (S. 126f).

Kommt es aufgrund der Gewohnheit des Geistes doch eben zu einer emotionalen Bewertung, verliert der Geist seine Ausgeglichenheit, soll dies wiederum zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden: "Just accept the fact: 'Look, there is craving - that's all'" (Hart, 1987; S. 80). Achtsamkeit und achtsamkeitsorientierte Psychotherapie sind Konzepte, die ihre Wurzeln vor allem in der buddhistischen Tradition finden: "Mindfulness plays a very important part in the Buddhist Way (...) Only of mindfulness has the Buddha said: 'This is the path going in one way for the purification of being, for the overcoming of sorrow and lamentation, for the destruction of pain and grief" (Khantipalo, 1989; S. 189).

Achtsamkeit ist 'prereflexiv' - schlichtes aber hellwaches Wahrnehmen von dem, was ist; sonst nichts

Brown & Ryan (2003) grenzten empirisch Achtsamkeit via einem von ihnen entwickeltem Instrument von konkurrierenden Konstrukten (wie Selbstaufmerksamkeit) ab. Dabei bilanzieren sie: "As it has been defined here, mindfulness differs from these traditional forms in several ways: Although various forms of self-awareness, as commonly defined, have an inherent cognitive and intellectual foundation, the concept of mindfulness explored here is 'prereflexive' in that its foundation is perceptual (...). In simple terms, mindfulness is openly experiencing what is there." (S. 840). Diese 'Präreflexivität' verdeutlicht anschaulich, dass Achtsamkeit nicht bewusst-aktives Akzeptieren, sondern eher hellwaches, aktives Nicht-Reagieren ist.